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22.08.2022

Tanz der Emotionen

Kommentar von Jan Mühlethaler

Géraldine Frey kann kurz durchatmen, bevor sie in Lausanne und Luzern nochmals über 100 Meter und mit der Staffel auf der Bahn antreten wird. Was ist geblieben von dieser Saison mit Hallen-WM sowie WM und EM im Freien? Die Gewissheit, dass die Sprinterin des LK Zug in der erweiterten Weltspitze angekommen ist. In Belgrad fehlte nur ganz wenig – und Géri wäre als erste Zuger Leichtathletin über 60 Meter in einem WM-Final gestanden. Doch auch so festigte sich zumindest die Erkenntnis, dass die ETH-Studentin an Reife und Konstanz gewonnen hat. Die Veränderungen in ihrem Trainingsumfeld tragen Früchte, von Verletzungen blieb die Zugerin glücklicherweise verschont – und auch finanziell konnte die Situation dahingehend optimiert werden, dass sich Hochleistungssport und Studium in den nächsten Jahren kombinieren lassen.

Géraldine Frey kann auf die Erfahrungen zurückgreifen, die eine derart lange Saison mit sich bringt – und das sind nicht wenige. Mit Blick auf die Weltmeisterschaften in Budapest (2023) und auf die Olympischen Spiele in Paris (2024) sind diese Erfahrungen auch wichtig. Die Hallen-WM in Belgrad kamen einem emotionalen Dauerhoch gleich – mit dem kleinen Wermutstropfen, das Finalrennen, in dem Mujinga Kambundji Weltmeisterin wurde, um Haaresbreite verpasst zu haben. Im Freien bestätigte Géraldine Frey ihren Aufwärtstrend, unterbot mit 11,23 Sekunden die Limite für die EM in München, wurde Dritte an den Schweizer Meisterschaften in Zürich und gewann über 200 Meter Gold! Aufgrund ihrer guten Platzierung im World Ranking schaffte sie auch den Sprung über den Teich (Eugene); für die Staffel, die kurz vor den WM Weltjahresbestzeit in Stockholm lief, war sie ohnehin gesetzt. Die Staffel, das Prestigeprojekt von Swiss Athletics, sie war es denn auch, die sowohl in Eugene wie auch in München Enttäuschungen mit sich brachte, vielleicht sind es auch «nur» Erfahrungen, die unabdingbar für die Zukunft sind.

Mit einem derartigen Reservoir an schnellen Athletinnen in die Saison zu gehen, ist beruhigend, aber es kann auch zur Hypothek werden, wenn es einmal nicht so läuft, wie Verband, Athletinnen, Sponsoren und mediale Öffentlichkeit es vorgesehen haben. Mujinga Kambundji, die sowohl in Eugene als auch in München über 100 Meter und über 200 Meter viel Freude und zwei Medaillen hervorbrachte, kann es allein nicht richten. Eine Staffelmedaille, die an den EM in München das erklärte Ziel war, ist nur zu schaffen, wenn auch Ajla del Ponte in Topform ist – und die Athletinnen 3 und 4 zumindest keine Instabilität ins System bringen. Das war in diesem Jahr nicht der Fall – und der Selektionsprozess von Swiss Athletics, der eine ehrliche Aufarbeitung mit Lehren für die Zukunft erfordert, brachte zusätzliche Reibung in den Maschinenraum des Vorzeigeprojekts. Ohne Mujinga Kambundji wird es auch in Budapest, Rom (EM) und an den Spielen in Paris kaum für eine Medaille reichen, darum ist dieser Ausnahmeathletin auch in dieser Hinsicht grosse Sorge zu tragen.

Doch wie immer im Leben, es gilt vorwärts zu schauen – und zu konstatieren, dass Géraldine Frey mit Rang 10 an den Europameisterschaften in der bayerischen Landeshauptstadt zumindest für den Moment nahezu ihr Potential ausgeschöpft hat. Es war eine lange, physisch und psychisch fordernde Saison mit vielen Learnings hier und dort, aber auch mit der Gewissheit, die Zuger Leichtathletik und den LK Zug mehr als einmal in die Schlagzeilen gebracht zu haben. Das spornt an und fordert heraus – und gibt die Sicherheit, in der Vergangenheit nicht alles falsch gemacht zu haben. Die Schweizer Leichtathletik lebt wie seit Jahren nicht mehr, doch die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Vielleicht ist das auch gut so.

 

 

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